
Krank, normal, gesund?
Bist du wirklich krank? Oder ist das noch normal?
Ist normal wirklich erstrebenswert?
Was wäre eigentlich optimal?
Kranksein wird meist von Normalsein abgegrenzt. Doch das ist eine oberflächliche Betrachtung. Nur weil jemand sich normal verhält, ist er nicht gleich gesund. Und: ich halte das, was wir unter normal verstehen, nicht für das Optimum von Gesundheit.
Wie im einleitenden Text beschrieben sehe ich psychische Gesundheit als ein Kontinuum, das sich zwischen kaum lebensfähig bzw. lebensbedrohlich krank bis hin zu sehr glücklich, erfüllt und erfolgreich erstreckt. Einer Meinung nach liegt das, was wir als „normal“ kennen, in der Mitte dieses Kontinuums.
Im Folgenden beschreibe ich die Extreme von krank und optimal mit meinen eigenen Worten. Vielleicht kannst du mit einigen Punkten nichts anfangen oder sie irritieren dich, dann kannst du einfach schauen, was ich damit gemeint haben könnte und wie du es formulieren würdest. Oder du ignorierst den Punkt - oder fragst dich, warum gerade dieser dich so anspricht. Ansonsten schau einfach, wo du dich wiederfindest und für wie ausgeprägt du den jeweiligen Punkt hältst.
Es kann sein, dass du ingesamt nicht so gut abschneidest oder dich in der Mitte befindest. Es kann auch sein, dass du dich bei einigen Punkten eher auf der kranken Seite einordnen würdest und bei anderen auf der gesunden. Das hieße, dass deine Stärken und Schwächen sehr unterschiedlich ausgeprägt sind, was Vor- und Nachteile hat. Wenn du dich insgesamt auf der gesunden Seite siehst und trotzdem eine Diagnose hast, dann stellen sich auch hier interessante Fragen, denen du nachgehen kannst.
Die Beschreibung des „Optimums“ ist keine Fiktion, denn ich kenne Menschen, die so leben. Ich weiß auch, dass ein solches Leben nicht nur reichen oder Menschen mit wenigen Problemen zugänglich ist, sondern im Gegenteil oftmals das Resultat von Krisen und Entbehrungen ist. Die Beschreibung mag provokant sein und ich hoffe, dass es dich nicht entmutigt oder frustriert, dass du noch lange nicht so weit bist.
Im Gegenteil, ich möchte ich gerne inspirieren, gerade wenn du von dem Leben, dass gemeinhin als „gut“ propagiert wird, enttäuscht bist. Es gibt so viel mehr zu entdecken! Und diene Erkrankung kann dir auf dem Weg dort hin gut weiterhelfen. Sie verhilft dir zu Selbstkenntnis, baut Ressourcen auf und - wer die Hölle kennt, der weiß die kleinen Dinge des Lebens zu schätzen, die viele übersehen. Und das ist die Quelle von echtem Reichtum :)
Krank
Erscheinungsbild
Der Mensch kann seine Bedürfnisse nicht durch eigene Initiative erfüllen, schlimmstenfalls existenzielle Bedürfnisse.
Die Bewältigung alltäglicher Aufgaben ist unmöglich oder fällt schwer, mit oder ohne Arbeit/Kinder.
Gefühle dienen nicht der Bewältigung des Lebens sondern blockieren oder belasten.
In Beziehungen werden emotionale Altlasten ausgelebt und damit Verletzungen hervorgerufen.
Es bestehen kaum oder keine sicheren Bindungen, Beziehungen sind emotional oder physisch verletzend, gewalttätig oder missbräuchlich.
Beziehungen beruhen auf Abhängigkeit, Angst und Kontrolle, es wird versucht, Macht über die andere Person auszuüben.
Kommunikation und Handeln sind widersprüchlich und unzuverlässig
Gedanken sind dramatisch, konfus, unlogisch, wahnhaft, zwanghaft oder gewalttätig.
Verhalten dient nicht der Erfüllung von Bedürfnissen sondern ist „unproduktiv“ oder „kontraproduktiv“.
Informationen können nicht angemessen verarbeitet werden, es besteht ein Mangel an Konzentration, Verwirrung, Sprachstörungen, es können Halluzinationen auftreten.
Es besteht wenig innerer Halt und ein negatives, widersprüchliches oder übermäßig positives Selbstbild.
Psychosomatische Beschwerden wie Schlafstörungen, Essstörungen, chronische Schmerzen oder chronische Begleiterkrankungen dominieren das Leben.
Es bestehen oftmals prekäre Lebensverhältnisse bezogen auf Geld, Wohnraum und Arbeit.
Unter Umständen spielen Drogen zum „Selbstmanagement“ eine Rolle, häufig mindestens Alkohol oder Tabakkonsum.
Lebenseinstellung
Verwirrung oder unzureichende Kontrolle über sich selbst sind leitende Handlungsprinnzipien, der Mensch istauf Hilfe angewiesen.
Irrationale Annahmen über die Welt und sich selbst erschweren kompetentees Handeln.
Mangel, Kampf und Bedrohung sind ständig im Fokus.
Es gibt keine oder nur eine schwache Verbindung zu Empfindungen wie Verbundenheit, Zuversicht, Mitgefühl, Geduld und Vertrauen.
Normal
Erscheinungsbild
Lebensverhältnisse sind geregelt, entweder durch Arbeit oder finanzielle Unterstützung.
Man kann sich um die nötigen Dinge im Leben kümmern.
Beziehungen sind nicht unbedingt sehr erfüllend, aber halbwegs stabil.
Die Arbeit, der man nachgeht ist nicht wirklich das, was man sich zutiefst wünscht, aber es ist okay und man findet ein wenig Erfüllung darin.
Es gibt einen Ausdruck von individuellen vorlieben in Hobbys, Urlauben, Ehrenamt oder vielleicht auch im Beruf.
Beziehungen lassen sich halbwegs bewusst steuern, vieles bleibt aber unbewusst.
Dazuzugehören und sich anzupassen an das, was von einem erwartet wird, sind wichtige Bedürfnisse und geben Halt.
Der Körper funktioniert halbwegs gut und erlaubt einem zu einem guten Teil, die Dinge zu tun, die man gerne tut.
Es gibt ein grundlegendes Sinnempfinden und Lust, am Leben zu sein.
Wichtige Lebensentscheidungen wie z.B. den Wohnort zu wählen, Familie zu gründen oder nicht, können getroffen und umgesetzt werden.
Es gibt ein Grundgefühl von Autonomie wie auch die Fähigkeit, Beziehungen einzugehen.
Lebenseinstellung
Man fühlt sich als handlungsfähig, wenn auch nur im Rahmen des „Normalen“ oder der eigenen Bezugsgruppe.
Es bleiben Bedürfnisse und Sehnsüchte unerfüllt, es gibt Ablenkung und Kompensation.
Die Erfüllung reicht aber, um das Leben gern zu leben und den eigenen Gestaltungsspielraum nicht ganz aus den Augen zu verlieren.
Es gibt Momente von grundloser Verbundenheit, Geduld, Vertrauen und Mitgefühl, wenn auch der Zugang nicht bewusst geschieht.
Es geschieht eine Weiterentwicklung mit jeder Lebenserfahrung.
Optimal
Erscheinungsbild
Es werden Bedürfnisse erfüllt (eigene und die anderer), freiwillig, gerne und kreativ.
Der Alltag ist eine Quelle von Erfüllung, er gelingt mühelos oder leicht trotz Arbeit und Familie.
Gefühle dienen der Bewältigung des Lebens und wirken bereichernd und befähigend.
Beziehungen sind geprägt von der gegenseitigen Erfüllung von Bedürfnissen, Respekt und dem konstruktiven Umgang mit Konflikten, sie beruhen auf Gegenseitigkeit mit einem Gleichgewicht von Freiheit und Verbindlichkeit und sind ein Raum von emotionaler Heilung und Selbstentfaltung von allen Beteiligten.
Es gibt Raum für das Leben von Kreativität und Gemeinsamkeit.
Arbeit entspricht der Berufung einer Person, ist eine Quelle von Erfüllung und dient dem Gemeinwohl.
Innere Führung ist präsent und führt zu einem Leben im Einklang mit sich selbst, dem unmittelbaren und dem größeren Umfeld.
Gedanken sind logisch und kongruent und werden dabei in einer ganzheitliche Logik eingebettet, die Intuition, Inspiration, Absicht und Herzintelligenz einschließen.
Informationen können sinnvoll verarbeitet werden, das sinnliche Erleben ist kongruent und eine Quelle von Erfüllung, sie dient der Orientierung und befähigt zur Interaktion.
Sinnempfinden ist tief verankert in einer Empfindung der Verbundenheit mit etwas Größerem.
Man orientiert sich an den Erwartungen anderer, unterliegt ihnen aber nicht, als hätte man keine andere Option.
Man fühlt sich nicht grundsätzlich als Opfer oder muss jemanden retten, sondern ist einfühlsam und handlungsfähig im besten Interesse aller.
Lebenseinstellung
Die Ausrichtung des Lebens liegt auf der Entfaltung echter Individualität in Harmonie mit der Entfaltung der Individualität anderer Wesen.
Nähren und Wachsen sind die leitenden Prinzipien.
Tod und Konflikt werden als Teil des Lebens angesehen und bewusst integriert.
Das Gefühl von Fülle, Versorgt-sein und Kooperation ist grundlegend im Fokus und kann auch in Konfliktsituationen aufrecht erhalten werden.
Prinzipien wie Verbundenheit, Zuversicht, Mitgefühl, Geduld und Vertrauen sind ein Teil des Empfindens und werden bewusst kultiviert.
Reflexion
Macht diese Einteilung für dich Sinn?
Hilft sie dir, dich zu orientieren oder macht sie dir erstmal Stress?
Welche Eigenschaften aus dem „kranken“, dem „normalen“ und dem „optimalen" Bereich kennst du an dir? Gibt es welche, die du ergänzen würdest?
Wie würdest du die Punkte vielleicht anders formulieren?
Welche Eigenschaften überraschen dich, weil du sie gar nicht kennst?
Macht es für dich für einen Unterschied, zu hören, dass „normal“ nicht unbedingt das Bestmögliche ist?
Welche weiterführenden Fragen fallen dir zu dieser Systematik oder einzelnen Punkten ein?
Wo siehst du dich auf dem Spektrum mit welcher Eigenschaft? Du kannst dir auch eine Linie aufmalen und die einzelnen Punkte mit Punkten, Kreuzen oder Farben markieren, so dass du einen bildlichen Eindruck bekommst.